

Schon seit Jahrhunderten wandern Menschen auf dem Kumano Kodō und beten zu den Kumano-Gottheiten – in der Hoffnung, dass diese ihnen dem Weg weisen und sie von Alltagslasten erlösen. Hier erzählen wir dir von unserer Reise.
Neben dem Jakobsweg ist der Kumano Kodō der einzige Pilgerweg, der zum UNESCO Weltkulturerbe gehört. Touristen reisen von weit her nach Japan, um ihn zu gehen. Doch als die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 die ganze Welt in einen Ausnahmezustand versetzt, bleiben die Besucherinnen und Besucher aus fernen Ländern plötzlich aus. Heute befindet sich die Region rund um den Kumano Kodō an einem Scheideweg. Hier berichten wir dir von unserer Reise auf der Nakahechi-Route und hoffen, dass dich das motiviert, ebenfalls deine Wanderschuhe zu schnüren.
Bei Fernwanderungen denken viele, dass sie an einem Stück zurückgelegt werden müssen. Doch gibt es auch die Möglichkeit, einzelne Teilstrecken zurückzulegen. Für den Kumano Kodō in Japan könnte dies die Rettung sein.
Wer sich entscheidet, einen Pilgerweg zu gehen, hat häufig die Idee, die gesamte Strecke am Stück durchzuwandern. Doch das muss nicht sein! Die Strecke in Teilabschnitten zurückzulegen, eröffnet neue Möglichkeiten und ist mit weniger körperlichen, zeitlichen und finanziellen Einschränkungen verbunden.
Traditionell galt die Pilgerreise nach Kumano erst dann als beendet, wenn an allen drei grossen Schreinen (dem Kumano Hongu Taisha, dem Kumano Nachi Taisha und dem Kumano Hayatama Taisha) gebetet wurde. Das ist jedoch mit grossem Aufwand und langen, intensiven Fussmärschen verbunden. Klar, gerade als es noch keine modernen Transportmittel und Hochgeschwindigkeitszüge gab, war die Anreise nach Kumano mühselig, weshalb viele sich entschieden, den Pilgerweg in einem Mal zu gehen. Heute ist die Situation allerdings anders und glücklicherweise werden alle Wanderer gleichermassen von den Kumano-Gottheiten, die für ihre Offenheit bekannt sind, gesegnet.
Den ersten Abschnitt der Nakahechi-Route wanderten wir mit Mitgliedern der Initiative Kumano Reborn. Diese möchte den Tourismus in der Stadt Tanabe wieder in Schwung brigen. Die 40 km lange Strecke führt am ersten von drei Schreinen vorbei, dem Kumano Hongu Taisha. Für Sei Ouchi, Reiseschriftsteller und Kumano-Reborn-Mentor hat das Pilgern in Abschnitten viele Vorteile:
«Wenn man den Pilgerweg Abschnitt für Abschnitt hinter sich bringt, besucht man die Gegend mehrere Male. Dadurch entsteht eine spezielle Verbindung. Ich persönlich kann mich mit dieser Art des Reisens gut identifizieren.» – Sei Ouchi
Noriko Tada, die Vorsitzende des örtlichen Kumano-Tourismusbüros der Stadt Tanabe, glaubt, dass auch japanische Wanderer den Kumano Kodō wieder stärker frequentieren werden, wenn das sogenannte «Section Hiking» populärer wird.
An ersten Tag unserer Reise sind wir 13 km von Takishiri-Oji nach Chikatsuyu-Oji gewandert. Mit etwa 1200 m Höhenunterschied ist diese Strecke kein Spaziergang. Allerdings gibt es nur wenige steile Anstiege und Abhänge, sodass man sich voll auf das Abenteuer einlassen und die Landschaft geniessen kann. Wir empfehlen dir, an den Ojis (王子), den kleinen Schreinen, anzuhalten und für eine sichere Reise zu beten.
Mit ein paar kleinen Shops, Cafés und sauberen Toiletten ist Takijiri-Oji (滝尻王子) der perfekte Ausgangspunkt für unsere Wanderung. Wenn es die Zeit erlaubt, solltest du im Pilgerzentrum Kumano Kodō Kan (熊野古道館) vorbeischauen. Hier gibt es Ausstellungen und Führungen, in denen du mehr über die Geschichte und Kultur von Kumano herausfinden kannst.
Der Anfang des Trails liegt direkt hinter dem Schrein von Takijiri-Oji. Kurz nach dem Loslaufen geht es über steile Felsstufen auf den Mt. Tsurugi (剣ノ山), was wörtlich übersetzt «der Berg eines Schwertes» bedeutet. Seine Höhe von 371 m mag nahelegen, dass es sich hier eher um einen Hügel als um einen Berg handelt, doch der 1,5 km lange Aufstieg von Takijiri zum Gipfel hat es in sich. Es ist der anspruchsvollste Teil der Route des ersten Tages. Nach etwa zehn Minuten Aufstieg gelangt man zu einer Stelle, an der sich eine schmale Öffnung zwischen riesigen Felsen befindet. Diese Höhle heisst Tainai Kuguri (胎内くぐり). Übersetzt heisst das so viel wie «durch den Mutterleib gehen». Der Legende nach soll der Gang hierdurch den Körper und Geist reinigen und Frauen mit Kinderwunsch zu einer einfachen Geburt verhelfen.
Tatsächlich findet man in Japans Bergen viele Höhlen mit dem Namen Tainai Kuguri. Beim Ritual, bei dem man durch einen dunklen, engen Bereich hindurchgeht und danach wieder an die Sonne hinaustritt, erlebt man gewissermassen «einen kleinen Tod und eine Wiedergeburt». Es wird mit O-Kaidan Meguri (お戒壇めぐり) assoziiert – also einer Reise durch ein inneres Heiligtum, bei der man durch einen heiligen Seilkreis geht. Man kann dieses Ritual besonders im Frühsommer in Tempeln im ganzen Land beobachten, auch dem Nagano Zenko-ji (長野善光寺) oder dem Chino-wa-Kuguri (芽の輪くぐり).
In der Antike galten alle Berge in Japan entweder als Symbole für das Leben nach dem Tod oder den Mutterleib. Die Idee, den Anfang eines neuen Lebens mit der Welt nach dem Tod zu verbinden, ist ein Beispiel für die synkretistische Auffassung von Religion, welche die Japanerinnen und Japaner haben. Gemäss Sei werden gewisse Wörter oder Sätze in Japan seit jeher gleich ausgesprochen, obwohl sie unterschiedliche Bedeutungen haben. So klingen etwa die Wörter Bergpfad (山道), Geburtskanal (産道) und Tempel/Schrein-Annäherung (参道) gleich. Das verdeutlicht, dass die Menschen schon damals eine Verbindung zwischen Bergwegen, Geburtskanal und dem Weg zu einem Tempel machten. Auch wenn der Kumano Kodō der wohl bekannteste heilige Ort ist, um wiedergeboren zu werden, so gelten Berge in Japan dennoch allgemein als spiritueller Ort der Wiedergeburt.
Der Stein auf deiner rechten Seite der Höhle Tainai Kuguri heisst Chichi-Iwa (乳岩), der Felsen der Muttermilch. Im japanischen Volksmund heisst es, dass dort einst ein Wunder geschah.
Es war in der späten Heian-Zeit (794–1185), als Fujiwara no Hidehira (藤原秀衡), ein Samurai aus Ōshū Hiraizumi (奥州平泉), mit seiner Frau auf einer Pilgerreise nach Kumano war. Sie hatte plötzliche Wehen und gebar das Kind bei besagten Felsen. Das Paar hatte allerdings grosse Angst, die Reise mit einem Neugeborenen fortzusetzen. Im Traum erschien ihnen eine der Kumano-Gottheiten und bat sie, das Kind zurückzulassen und die Reise zu beenden. Der Mann und die Frau setzten ihre Reise also fort. Nach ihrem Aufbruch erschien ein Wolf, der das Baby beschützte und von der Decke des Felses begann Milch zu tropfen. Als die Eltern von der Pilgerreise zurückkehrten, waren sie überglücklich, ihr Baby gesund und wohlbehalten in die Arme schliessen zu können.
Nach Chichi-Iwa setzt sich der steile Aufstieg noch eine Weile fort. Aber sobald man den Gipfel des Mt. Tsurugi überwunden hat, ist die Route nach Takahara (高原) leicht zu bewältigen. Wenn man Takahara – es wird wegen seines malerischen nebligen Bergpanoramas auch «Dorf des Nebels» genannt und erlaubt einen Einblick in den Alltag der Einheimischen – erreicht hat, verlässt man den Trail und wechselt auf eine asphaltierte Strasse.
Der Kumano-Schrein von Takahara (高原熊野神社) ist das Zuhause der ältesten Pavillons in Nakahechi und beherbergt ein heiliges Objekt des Kumano Hongu Taisha. Nimm dir hier ein paar Minuten Zeit und bete für eine sichere Reise.
Vom Schrein aus kann man einen kleinen Spaziergang zum Rastplatz Takahara Kirino Sato machen, der mit Toiletten, Bänken und einem Rasthäuschen mit Tischen ausgestattet ist. Mit seinem Panoramablick auf die Berge ist dieser Ort perfekt für eine Mittagspause, wenn du frühmorgens in Takishiri aufgebrochen bist.
Die 9,2 km von Takahara nach Chikatsuyu können ganz schön anstrengend sein. Deshalb sollte man sich vor dem Aufbruch mit Getränken aus dem Automaten versorgen, seine Wasserflaschen wieder auffüllen und allenfalls die Toiletten am Bahnhof benutzen.
Weiter geht’s auf der anderen Strassenseite. Von dort aus führt der Weg weiter durch die Berge. Es ist hier allerdings weniger steil. Nach einem kleinen Anstieg geht es sanft bergauf und bergab und immer wieder auch durch flaches Gelände.
Geniesse den ruhigen Bergpfad inmitten des tiefen Waldes von Kumano. Warum nicht mit den anderen aus deiner Gruppe plaudern, oder dich in deinen Gedanken verlieren?
Knapp eine Stunde, nachdem man Takahara verlassen hat, erreicht man den Daimon-Oji. Es heisst, dass der Oji Daimon (大門), übersetzt «grosses Tor», so genannt wird, weil sich einst ein Tor zu einem Torii-Schrein (鳥居) in der Nähe befand. Danach geht es etwa 30 Minuten lang leicht bergauf und bergab, bis man den Jujo-Oji erreicht (十丈王子).
Jujo-Oji verfügt über einen offenen Bereich, in dem man sitzen und die Beine ausstrecken kann. Es gibt auch Toiletten. Warum also nicht eine kurze Pause einlegen? Bis zur Edo-Zeit (1603–1868) gab es hier einige Häuser und einen Schrein. Dieser wurde am Ende der Meiji-Periode allerdings entfernt. So ist dieser Ort heute ein einsamer Ort auf einem Berg.
Von Jujo Oji aus wandert man eine knappe Stunde zu den Ruinen des Teehauses Uwadawa-jaya (上多和茶屋跡). Mit 688 m ist dies der höchste Punkt des Weges. Von den Überresten des Teehauses bis zur nächsten Station, dem Osakamoto-Oji (大坂本王子), geht es 15 Minuten steil bergab. Hier ist Vorsicht geboten.
Schliesslich erreicht man den Rastplatz Kumano Kodo Nakahechi Michi-no-Eki. Hier gibt es nicht nur Toiletten, sondern auch Getränke oder Snacks zu kaufen.
Vom Rastplatz aus führt ein 15-minütiger Aufstieg zum Hashiori Toge Pass (箸折峠) und zum Gyuba Doji (牛馬童子). Diese zauberhafte, 50 cm hohe Felsenstatue wurde in der Meiji-Ära gefertigt und errichtet. Heute ist sie ein Symbol von Nakahechi.
Es heisst, die Statue stelle Kaiser Kazan dar, der im Alter von 17 Jahren zum Kaiser gekrönt wurde, aber abdanken musste, weil eine seiner Frauen während der Schwangerschaft plötzlich verstarb und die mächtigen Politiker um ihn herum finstere Absichten hatten. Kazan, der den Kaiserpalast mit gebrochenem Herzen verliess, war einer der ersten, der nach Kumano pilgerte. Auch wenn er politisch nicht glänzen konnte, war er künstlerisch begabt und hinterliess eine Reihe wunderschöner Waka-Gedichte.
Ein 10-minütiger Spaziergang vom Gyuba Doji führt zum Chikatsuyu-Oji (近露王子). Der Name Chikatsuyu geht auf eine Legende im Zusammenhang mit dem Kaisers Kazan zurück. Als dessen politische Laufbahn in jungen Jahren ein jähes Ende fand, brach er die Stängel einer Pflanze ab, um sie als Essstäbchen zu benutzen. Der Tau auf den Stäbchen reflektierte das Licht des Sonnenuntergangs und liess es blutrot erscheinen. Er fragte seinen Diener mit besorgtem Blick, ob es sich um Blut oder Tau handle. Im Japanischen ist das Wort für Blut «Chi» oder «ka». Das Wort für Tau ist «tsuyu». Chikatuyu bedeutet also «Blut oder Tau».
Das Dorf Chikatsuyu bietet diverse Übernachtungsmöglichkeiten. Die Ausstattung und das kulinarische Angebot der Unterkünfte variieren. Es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, das Abendessen, das Frühstück sowie eine Bento-Box für den Lunch am nächsten Tag vorzubestellen. Wenn du gedenkst, eine längere Strecke zu gehen, empfehlen wir dir hier zu übernachten.
Wir haben uns im Minshuku Chikatsuyu (民宿ちかつゆ) einquartiert und genossen hausgemachte Gerichte mit regionalen Zutaten. Unser Highlight war das Ayu-gohan (鮎ご飯), gedämpfter Reis mit gebratenem Ayu-Fisch. Nicht zu vergessen, dass es hier auch eine natürliche heisse Quelle gibt! Und eine Tasse hausgemachter Ume-shu (梅酒), ein Pflaumenlikörs, bewirkt wahre Wunder und vertreibt Müdigkeit und Erschöpfung.
Im nächsten Teil unserer Serie gehen wir die restlichen 26 km von Chikatsuyu zum Kumano Hongu Taisha-Schrein. Ausserdem stellen wir dir eine versteckte heisse Quelle vor, die Teil eines UNESCO-geschützten Gebiets ist.