

Die von Nicole Ver Kuilen angeführten Athlet*innen kämpfen an vorderster Front dafür, adaptive Rennen für alle zugänglich zu machen – und damit auch den Alltag.
Text von Laura Markwardt. Fotos von Patrick Pressgrove.
Im Rahmen unseres Social Impact Programms Right To Run unterstützt On Organisationen, die sich für einen verbesserten Zugang zu Bewegung einsetzen. Die Möglichkeit, zu laufen oder sich zu bewegen ist ein Recht, das es zu erhalten gilt. In diesem Jahr haben wir die Organisation «So Every BODY Can Move: 28x28» unterstützt, indem wir ihr adaptives Hood to Coast Team gefördert haben. Dieses setzt sich dafür ein, das Bewusstsein für Barrieren für Menschen mit Behinderungen zu schärfen.
Die treibende Kraft hinter der Initiative und der 28x28-Bewegung ist die Para-Athletin Nicole Ver Kuilen. Nicole hat auch Forrest Stump mitgegründet, eine NGO, die das Hood To Coast Team organisiert und die Initiative So Every BODY Can Move finanziell unterstützt.
Kyle Stepp und Dee Palagi sind die Co-Kapitäne des Hood To Coast Teams. Das Staffelteam aus den USA und Kanada stellt sich bereits zum zweiten Mal der Herausforderung: «Letztes Jahr und jetzt, 2023, sind wir ein Team – wenn nicht sogar das einzige – am Hood to Coast, das ausschliesslich aus Athlet*innen mit körperlicher Behinderung besteht», sagt Nicole aus Vancouver, Washington. «Wir stehen an der Spitze einer Bewegung, die das Laufen für Menschen mit Behinderungen zugänglicher machen will.»
Mit dem National Mobility Movement setzen sie sich dafür ein, bis zu den Paralympischen Spielen 2028 den Zugang zu bewegungsspezifischen Prothesen und Orthesen in 28 Ländern zu verbessern.
Nicole Ver Kuilen
Kyle Stepp
Und es gibt vieles, das sich ändern muss. Derzeit machen Menschen mit Behinderungen weniger als ein Prozent der fast 20.000 Läufer*innen aus. Ein verbesserter Zugang zu speziellen Prothesen, Orthesen, Rollstühlen, Blindenführhunden und anderen Hilfsmitteln, die Bewegung erst ermöglichen, kann den Zugang zum Laufen verbessern.
«Wir sensibilisieren nicht nur für eine bessere Versorgung mit Orthesen und Prothesen», fährt Nicole fort. «Wir loten auch die Möglichkeit aus, eine Kategorie von Läufer*innen wie uns einzuführen, eine adaptive Kategorie, in der Teams gegeneinander antreten und ein Gefühl der Gemeinschaft erleben können.»
Hood to Coast ist der grösste zweitägige Staffellauf der Welt. Teams von bis zu zwölf Athlet*innen aus über 40 Ländern treffen sich in Portland, Oregon, um 315 km vom Gipfel des Mount Hood bis zu den Sandstränden von Seaside Town an der Pazifikküste zu laufen.
Die Strecke ist in 36 Etappen, sogenannte «Legs», mit 35 Übergaben unterteilt, an denen die Läufer*innen ihren Kolleg*innen ein Armband oder ein High Five übergeben. Die gesamte Veranstaltung ist von einer besonderen Energie geprägt, so auch der Staffellauf. Die Läufer*innen bringen nicht nur ihre volle Motivation auf die idyllische Strecke zwischen dem Mount Hood und dem Strand von Seaside, sondern auch ihre ganz persönlichen Geschichten.
Nicole Ver Kuilen verlor im Alter von zehn Jahren ihr linkes Bein durch Knochenkrebs. Sie versucht, jede Chance zum Laufen zu nutzen, mit allem, was sie hat. Eine für den Sport ungeeignete Beinprothese, schmerzhafte Läufe an der Universität und die Weigerung der Krankenkasse, die Kosten für eine Running Blade zu übernehmen, weil diese «medizinisch nicht notwendig» sei, schreckten sie nicht ab. Nicole fühlte sich darin bestärkt, noch entschlossener weiterzumachen.
Der Preis für Prothesen, die für Sport geeignet sind, liegt bei bis zu USD 50.000.-. Kosten, die ohne Krankenversicherung enorm hoch sind. In den USA leben mehr als sechs Millionen Menschen ohne oder mit defekten Gliedmassen, die in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind. Sie alle benötigen Prothesen oder Orthesen, um Sport treiben zu können. Doch die meisten Policen der Krankenversicherungen decken diese nicht ab.
Die Alternativen dazu sind riskant: Nutzen Menschen mit Behinderungen Prothesen, die ungeeignet sind, riskieren sie Verletzungen. Bewegen sie sich gar nicht, setzen sie sogar ihr Leben aufs Spiel.
2018 trat Nicole an einem 1‘500-Meilen-Triathlon an der US-Westküste an.
Die grösste Herausforderung war jedoch nicht die enorme Distanz; ihre Entschlossenheit und ihr Durchhaltevermögen gleichen diese aus. Das Schwierigste war, dass die Prothese, die ihr von der Versicherung verordnet wurden, nur zum Gehen geeignet war.
Kyle Stepp aus Albuquerque, New Mexico, hat wegen Komplikationen mit Knochenkrebs vor zwölf Jahren sein Bein verloren. Seither schlägt er sich durch ein kaputtes Gesundheitssystem. Seinen Träumen als Athlet und Outdoor-Abenteurer bleibt er trotzdem treu: «Fremde, Freund*innen und Familie sagten: 'Du bist so inspirierend.' Ich tat mir schwer damit, diese Worte zu hören. Ich weiss, dass sie gut gemeint sind, aber was macht mich zu einer Inspiration, aber nicht die Person ohne Behinderung, die die gleiche Aktivität ausübt?»
Er bringt seine Erfahrungen mit psychologischer, struktureller und sozialer Ungleichheit in Zusammenhang mit dem Zugang zu Bewegung: «Der Grund, warum Athlet*innen mit Behinderungen als Inspiration angesehen werden, ist, dass es für uns einfach nicht normal ist, körperlich aktiv zu sein.»
Er fährt fort: «Wenn jeder Mensch mit fehlenden oder defekten Gliedmassen von Anfang an wüsste, dass er Zugang zu einer Sportprothese hat, würde Bewegung für uns allmählich zur Normalität werden.»
Das Team bei Seaside
Nicole übergibt an Kelsey
Neben Nicole und Kyle gehören Dee Palagi, SaraMae Hollandsworth, Robert Anthony, Leah Kaplan, Patrick Pressgrove, Kelsey LeFevour, Erica Korpi, Kionte Storey, Amelia Dittmar-Maggs und John Edward Heath zum Team.
Gemeinsam arbeiten sie daran, limitierende Narrative über die Community von Menschen mit Behinderungen zu widerlegen. Diese Narrative kennen meist zwei Stossrichtungen: die Superheldin (wie ein Paralympionike) oder Menschen, die ihr Leben sitzend verbringen.
Dabei ist Bewegung nicht binär, sondern ein Spektrum. Der beste Beweis dafür ist die Diversität der Mitglieder des Teams. Amelia Maggs-Dittmar aus Denver, Colorado, lebt mit einer Unterschenkelamputation und sagt: «Dies ist das erste Mal, dass ich offiziell an einem Event teilnehme. Ich möchte mir Zeit nehmen, um Sport zu treiben und zu sehen, was ich als Amputierte wirklich erreichen kann.» Der Zufall will es, dass viele von Amelias Teamkollegen wissen, was man erreichen kann.
Amelia Dittmar-Maggs
Kionte Storey
Hood to Coast ist bekannt als die «Mutter aller Staffelläufe». Es verwundert also nicht, dass die unterschenkelamputierte Athletin Kionte Storey die Dynamik im Team mit den Worten «wie in einer Familie» beschreibt. Doch trotz der bedingungslosen Unterstützung kämpfen die Mitglieder, wie in jedem Team, wie bei jedem sportlichen Hintergrund, mit Zweifeln.
SaraMae Hollandsworth aus Dallas, Oregon, nahm vor zwei Jahrzehnten schon einmal am Hood to Coast teil – als Athletin ohne Behinderung. Nun kehrte sie als Läuferin mit zwei Unterschenkelamputationen zurück. Sie sagt, sie habe ihren Erfolg der Dynamik des Teams von So Every BODY Can Move zu verdanken, das sie «manchmal mit Körpereinsatz» über die Strecke getragen habe.
SaraMae Hollandsworth
Die erste Etappe des Staffellaufs nennt sie «Showtime»: Um 3 Uhr morgens stand sie vor der Aufgabe, das Gleichgewicht zu halten. «Es war dunkel und als beidseitig Amputierte auf Running Blades fällt es mir schwer, die Balance zu halten.»
Die zweite Etappe fand bei Tageslicht statt, die Temperaturen stiegen auf schwüle 35 Grad Celsius. «Ich dachte nur: 'Sei kein Hitzeopfer. Beunruhige das Team nicht.» Mehr Schweiss, Müdigkeit und Reibung erschweren das Laufen mit Prothesen. Eine zusätzliche Herausforderung für das gesamte Team. «Ich bin einfach weitergelaufen», sagt SaraMae.
Die dritte und letzte Etappe führte zum Erfolg: «Plötzlich sehe ich, wie mein Team die Prothesen in die Luft hält. Es war wunderbar, alle zu sehen und ich war so dankbar, dass ich niemanden im Stich gelassen habe», sagt sie. «Und dann zu sehen, wie wir alle die Ziellinie überqueren und zu wissen, dass wir es gemeinsam geschafft haben. Das war etwas ganz Besonderes. Alle haben ihren persönlichen Moment der Erfüllung, ihren persönlichen Triumph erlebt. Bewegung und Community sind Medizin.»
Und die Taten dieser Community haben über sie hinaus positive Einflüsse. So erhält Every BODY Can Move Unterstützung von Zachary Friedley, einem Athleten mit Behinderung, der beim UTMB gerade den 40 km Lauf von Martigny-Combe nach Chamonix absolviert hat. Vor dem Staffellauf haben Zachary und sein legendärer Trainer Eric Orton ihre persönlichen Trainingstipps mit dem Team geteilt. Denn sie alle haben denselben Traum: Sie wollen die Gesetze so verändern, dass mehr Menschen Zugang zu Sportprothesen und -orthesen erhalten. Alle sollen von der heilenden Kraft der Bewegung profitieren können.
Leah Kaplan
Kelsey LeFevour
Leah Kaplan aus Spokane, Washington, eine Teamkollegin und Athletin mit einer Behinderung der oberen Gliedmassen, sagt, dass der Mangel an Zugang oft als ein Problem für Menschen mit Behinderungen angesehen wird. Doch in Wirklichkeit sei es ein Problem der Welt um sie herum: «Es ist die Umgebung oder die Gesellschaft, die dich daran hindert, dich zu bewegen.»
Im letzten Jahr hat So Every BODY Can Move durch seine Gründung schon genug Lärm gemacht, um das Hood to Coast zu verändern. Das Rennen wurde zugänglicher.
Nicole lobt Dan Floyd und Felicia Hubber, die das Hood to Coast organisieren und die Veränderungen vorangetrieben haben: von mehr behindertengerechten Parkplätzen in den Übergabezonen bis zu einem besseren Zugang fürs Foto nach der Ziellinie. «Es muss noch mehr getan werden. Die Toiletten in den Übergabezonen müssen barrierefrei werden und am Strand müssen für Rollstuhlfahrer*innen Hilfsmittel wie Access Trax oder Mobi Mats bereitgestellt werden», sagt sie. «Unsere Rollstuhlfahrerin Kelsey LeFevour wollte das Rennen unbedingt in ihrem eigenen Rollstuhl beenden. Er ist ein Teil von ihr.»
Das Ziel ist ein breiter, umfassender Wandel: «Auf dem Weg dorthin werden noch viele Rennen stattfinden», sagt Nicole. Doch ihr Anliegen gewinnt von Jahr zu Jahr an Fahrt.
Es ist unmöglich, jede individuelle Geschichte zu erzählen, die auch über das Hood to Coast hinaus von Widrigkeiten und Erfolgen geprägt ist: «Eine Behinderung zu haben ist nur ein kleiner Teil von dem, was man ist», sagt Kyle. Und doch haben alle ein gemeinsames Narrativ: «Alle verdienen es, Rennen zu laufen und die Ziellinie zu überqueren. Bewegung ist ein Recht, kein Privileg.»
Robert Anthony, Teamkollege, Athlet und Unterschenkelamputierter aus New York, sagte nach dem Rennen: «Es ging nicht um eine einzelne Person, es ging um etwas Grösseres.»
Mit Dank an
Vier Partnerorganisationen stehen hinter der Initiative So Every BODY Can Move. Dazu gehören Nicoles Arbeitgeber, die American Orthotic & Prosthetic Association (AOPA), die Amputee Coalition (AC), die National Association for the Advancement of Orthotics & Prosthetics (NAAOP) und die American Academy of Orthotists and Prosthetists (AAOP).