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Lydia Keating: «Wie unangenehm darf Laufen sein?»

Im Vorfeld des London Marathon schreibt die Autorin, Läuferin und On Partnerin Lydia Keating in einem persönlichen Essay über Verletzungen und die körperlichen und emotionalen Signale, die unser Leben verändern.

Text von Lydia Keating. Fotos von Seung Lee.

31. Januar 2024, New York City.Drei Monate bis zum Marathon in London.

Ich sitze in einem Zimmer im fünften Stock eines Hochhauses auf der Upper East Side. Mindestens vier Fernseher sind eingeschaltet und zeigen Szenen von verschiedenen Sendern. Alle Monitore sind leise gestellt, ein undeutliches Gemurmel erfüllt den Raum. Das einzige klare Geräusch ist die Stimme der Rezeptionistin, wenn eine neue Person hereinkommt. «Name?» und «Bitte nehmen Sie Platz» ist meist alles, was sie sagt. 

Der Raum ist mit «Pain Management Center» beschriftet. Ich weiss, das ist nicht wirklich der richtige Ort für mich, aber wenn ich auf einen Termin bei Sportmediziner*innen oder Orthopäd*innen warte, dauert das mindestens einen Monat. Ein paar Stühle weiter sitzt eine ältere Frau mit einem Stock in der Hand. Ich starre auf den Teppichboden, als eine kleine weisse Pille in mein Blickfeld rollt. 

«Schatz», sagt die Frau. Ich schaue auf, und sie lächelt mich an, aber ihre Stirn runzelt sich vor Sorge. «Kannst du das bitte aufheben?», fragt sie. «Sie ist mir runtergefallen und ich kann mich nicht so weit bücken.» «Natürlich», sage ich. Ich stehe auf und hebe die Pille vom Boden auf. Die Frau streckt den Arm aus und lächelt wieder, als ich sie ihr in die Hand drücke. Ich sehe tiefe Falten in ihren Handflächen – die Art von Falten, über die meine Schulfreund*innen in Pausen mit ihren Fingern fuhren, um mir meine Zukunft vorauszusagen (ich werde ein mittellanges Leben führen, ich werde reich sein, ich werde eines Tages sehr schlau sein). 

«Das sind meine Zauberpillen», sagt sie und legt sich eine auf die Zunge, der Speichel glänzt im Neonlicht. Sie nimmt einen Schluck aus ihrer fast leeren, völlig verbogenen Plastikwasserflasche. «So nenne ich sie», fährt sie fort. «Weil sie meinen Schmerz wegzaubern. Magie.»

Ich setze mich wieder und fülle den Fragebogen aus, den mir die Rezeptionistin gegeben hat. Der Raum riecht leicht nach Reinigungsalkohol. Der Bogen enthält Fragen zu meiner Krankengeschichte. Hatte ich dort schon mal Schmerzen? Bin ich schon einmal ohnmächtig geworden? Bin ich depressiv? War ich jemals depressiv? Wurde ich schon mal operiert? War der Schmerz dumpf oder pochend? War er scharf oder stechend? 

In den letzten zwei Wochen war ich bei einem Physiotherapeuten, einer Akupunkteurin und einer Sportmasseuse. Bei allen musste ich den gleichen Fragebogen ausfüllen. Alle haben mich gebeten, meine Schmerzen genau zu beschreiben. Ich schreibe mit einem stumpfen gelben Bleistift:

Beschreiben Sie den Schmerz: Er ist im unteren Rücken. Er ist normalerweise dumpf und schmerzhaft und wird nur beim Laufen stärker. 

Beeinflusst er Ihren Alltag?  Ja. Ich kann nicht laufen gehen.

29. Dezember 2023, Tennessee. Fünf Monate bis zum London Marathon.

Kurz vor dem Jahreswechsel schreibe ich fieberhaft Ziele in die Notiz-App meines Handys. Ich entwerfe eine perfektionierte Version meiner selbst – eine Version, die ich im Jahr 2024, dem letzten Jahr meiner Zwanziger, unbedingt sein möchte. 

Ich teile meine Ziele in verschiedene Kategorien ein: Schreiben, Laufen, Content/Karriere. Meine Laufliste sieht so aus: 

  1. Zehn Marathons laufen, BEVOR ICH 30 BIN. Das sind noch drei Marathons in diesem Jahr: London (April), Berlin (September) und Pikes Peak (September).

  2. Einen Lauf-Coach finden.

  3. Wieder mit dem Krafttraining anfangen. 3x pro Woche trainieren.

  4. Einen monatlichen Fruit-Gang-Gruppenlauf organisieren, wie den, den ich vor dem New York Marathon gemacht habe. 

  5. Eine Lauf-Community gründen und/oder mich stärker in der NYC-Laufgemeinschaft engagieren.

Wenn ich auf meine Fünf-Punkte-Liste schaue, bin ich aufgeregt. Natürlich bin ich nervös – ich weiss, dass es ehrgeizig ist. Aber die Herausforderung stärkt mich.

2. Januar 2024, New York City. Vier Monate bis zum London Marathon.

Nach den Feiertagen fliege ich zurück nach New York und hol mir einen Lauf-Coach. Wir stellen einen Plan zusammen. Ich erzähle ihm von den drei Marathons. Ich erkläre ihm, dass das erste grosse Rennen in London (in nur vier Monaten, im April) das wichtigste für mich ist, weil ich einen persönlichen Rekord aufstellen möchte.

Am nächsten Tag schickt er mir per E-Mail meinen Trainingsplan für den Marathon. Beim Lesen wird mir schwindelig – ein Gefühl der Unendlichkeit. Wenn ich Tag für Tag die Ernte der harten Arbeit aufeinander türme, ist alles möglich. 

Am nächsten Tag, dem zweiten des neuen Jahres, einem klaren, kalten, aber schönen Morgen in New York, fahre ich zum Prospect Park, um mein erstes Training zu absolvieren. Es besteht aus einem ausgiebigen Aufwärmen, zehn einminütigen Intervallen im Wechsel und einem Cool-Down. Während der letzten Kilometer, als ich die sanften Hügel einer berühmten Schleife in Angriff nehme, spüre ich einen dumpfen Schmerz in meinem Rücken. 

Ich kämpfe durch den Schmerz, weil ein grosser Teil des Laufens genau das ist: sich den Gedanken, den Gefühlen, den körperlichen und emotionalen Signalen zu entziehen, die uns sagen, dass wir aufhören sollen. Das ist eines der schönsten Dinge am Laufen – dass es uns lehrt, Unannehmlichkeiten zu akzeptieren, eine Lektion, die irgendwie nie alt oder überholt wird. Laufen lehrt uns, dass Unbehagen willkommen ist, denn es zeigt, dass wir uns verändern, uns verbessern.

Das ist es, worum es beim Laufen im Grunde geht: eine Möglichkeit, uns selbst zu zeigen, dass wir fähig sind, uns zu verändern, dass wir uns jeden Tag dafür entscheiden können, eine bessere Version unserer selbst zu werden.«Laufen ist eine Möglichkeit, uns selbst zu zeigen, dass wir fähig sind, uns zu verändern.»

Das offensichtliche Rätsel ist also, wie unangenehm man sich beim Laufen fühlen sollte. Das ist eine komplizierte Frage.

14. Februar 2024, New York City. Zweieinhalb Monate bis zum London Marathon.

Zwei Wochen nach meinem ersten Besuch im Pain Management Center kehre ich für ein MRT zurück. Die Pflegefachfrau fragt mich, ob ich Musik hören möchte, aber ich lehne ab. Ich befinde mich in einer dieser Lebensphasen, in der mich jede Musik, egal welcher Art, traurig macht. Ich verhalte mich so ruhig wie möglich, während die grosse zylindrische Maschine rattert, klickt und brummt.

Später am Abend ruft mich der Arzt an und teilt mir die Ergebnisse mit: Ich habe eine sakrale Stressfraktur. Das Kreuzbein, das ganz unten an der Wirbelsäule zwischen den Hüftknochen sitzt, hat die Form eines umgekehrten Dreiecks. Es wird acht bis zwölf Wochen dauern, bis es verheilt ist, und ich muss so wenig wie möglich auf den Beinen sein. 

Mein Physiotherapeut erzählt mir, dass Kreuzbeinbrüche bei Läufer*innen immer häufiger vorkommen, aber oft falsch diagnostiziert werden. Leute fragen: «Was ist passiert? Läufst du London noch?» Doch den Begriff Kreuzbein kennen sie nicht immer. Also sage ich: «Ich habe mir den Rücken gebrochen». Das klingt unnötig dramatisch, aber es stimmt. 

20. Februar 2024, New York City. Zweieinhalb Monate bis zum London Marathon.

Wenn ich meiner Online-Community erzähle, dass ich mit einer Laufverletzung zu kämpfen habe, teilen eine Flut von Leuten ihre eigenen Erfahrungen in den Nachrichten. Mit einigen spreche ich direkt: 

Billie ist letztes Jahr den Marathon gelaufen. Einen Monat nach London bekam sie Schmerzen im linken Knie. Es handelte sich um eine Stressfraktur an der Unterseite der Kniescheibe; sie trug acht Wochen lang eine Schiene und lief mit Krücken. Während sie sich von dieser Verletzung erholte, zog sie von Boston nach New York. «Die Verletzung hat mir viel Angst gemacht», sagt Billie. «Und der Umzug war eine stressige Zeit. Ich hatte das Gefühl – und habe es immer noch –, dass ich es verpasse, eine neue Community in New York aufzubauen, weil ich nicht laufen gehen kann.» Sie erzählt mir, dass sie, wenn sie wieder mit dem Laufen beginnt, «viel achtsamer sein wird und [ihren] Körper wirklich dafür respektieren wird, dass er [sie] laufen lässt». Sie hat einen Startplatz für den Chicago Marathon 2024. 

Natalie lief im Juni 2022 den Grandma's Marathon in Duluth, Minnesota, und im Oktober den Twin Cities Marathon. Nach dem Zieleinlauf in Twin Cities hatte Natalie Schmerzen in den Beinen und ein Taubheitsgefühl in ihrem Fuss. Nach mehreren Untersuchungen bei Ärzt*innen und Physiotherapeut*innen stellte sich heraus, dass sie beide Rennen mit einem Meniskusriss gelaufen war – einem zwölf Zentimeter langen Riss. Sie wurde im vergangenen Juni operiert und begann im Januar 2024 wieder zu joggen. Natalie erzählt mir, dass die Genesung von ihrer Verletzung eine Meditation über die Trauer war. «Denn es ist ein Verlust», sagt sie. «Ein Verlust des Selbst und der Identität. Ich habe mich mit den damit verbundenen psychischen Herausforderungen auseinandergesetzt.» Als sie ihren Chirurgen fragte, ob sie jemals wieder laufen würde, riet er ihr, andere Distanzen in Betracht zu ziehen. «Das war ein Stich ins Herz, denn ich hatte immer das Gefühl, wenn ich keinen Marathon laufe, bin ich keine richtige Läuferin», sagt Natalie. Wir reden darüber, dass das ein Trugschluss ist und dass jede Strecke, auch nur eine Minute Joggen, eine würdige Strecke ist. Ich sage ihr, dass ich, sobald ich wieder laufen kann, in die Freizeit-Leichtathletik einsteigen möchte. Diese 42 Kilometer sind zweifellos eine beeindruckende Leistung, aber es gibt viele andere Möglichkeiten, sich als Läufer*in herauszufordern, die genauso beeindruckend sind (wenn nicht noch beeindruckender).

«Sobald ich wieder laufen kann, möchte ich mich in der Freizeit-Leichtathletik engagieren." 

Lauren, eine frischgebackene Mutter, erzählt mir von ihren Erfahrungen nach der Geburt und den Auswirkungen auf ihr Lauftraining. Sie lief zu Beginn ihrer Schwangerschaft noch, hörte aber im ersten Trimester auf. Die Schwangerschaft verschlimmerte ein muskuläres Ungleichgewicht in ihrem Becken. «Mehr Kraft, mehr Gewicht, mehr Belastung», erklärt sie. «Die Schwangerschaft hat die Verletzung noch verschlimmert.» Seit der Geburt ihres Kindes kann sie immer noch nicht laufen gehen, aber sie sehnt sich danach. «Selbst wenn ich nur dreimal in der Woche fünf Kilometer laufen könnte, würde mich das glücklich machen.» Sie ist optimistisch, dass sie es mit der Zeit schaffen wird. «Als Mutter wird mir mehr denn je bewusst, wie wichtig es ist, gesund zu sein und einen klaren Kopf zu haben.» Im Moment ist Yoga ihr Laufersatz, und damit kommt sie gut durch die kalten Wintermonate von Denver.  

7. März 2024, New York City. Zwei Monate bis zum London Marathon.

Ich bin jetzt in der neunten Woche meiner Genesung. Es wird wärmer in New York. Ich habe keine Schmerzen mehr beim Gehen. Wenn die Temperatur über 10 °C steigt, packt mich die Ungeduld und die Lust zu laufen. Die Verletzung bereitet mir einige dunkle Tage. Wenn ich nicht mehr klar denken kann, gehe ich laufen. Aber das ist im Moment keine Option. Heilen ist verwirrend – ich frage mich ständig, ob ich zu viel oder zu wenig mache.

Aber ich habe das Gefühl, dass etwas karmisch Bedeutsames im Gange ist. Ich habe dieses ehrgeizige Jahr mit drei Marathons geplant, um das strahlende Ziel «Zehn vor 30» zu erreichen – und am ersten Tag meines ersten Trainingszyklus sagte das Universum: «Nein». Jetzt bin ich endlich an einem Punkt angelangt, an dem ich mich mit Würde von diesem Ziel trennen kann. Natürlich kann ich auch «Zehn Marathons vor 31» oder «Zehn vor 32» schaffen. Das klingt nicht so knackig, aber es wird umso triumphaler und bedeutender sein, wenn ich es schaffe. 

«Ich habe das Gefühl, dass etwas karmisch Bedeutsames im Gange ist.»

Vor meiner Verletzung sah ich das Erreichen der 30 als ein statisches, beängstigendes Ende von etwas an. Jetzt blicke ich darüber hinweg und freue mich auf das, was mich im nächsten Jahrzehnt erwartet: Abenteuer, Freundschaften, gutes Essen, die Rückkehr zu meinen regelmässigen Läufen im Prospect Park und, aller Voraussicht nach, ein Marathon in London.