Lauf langsam, um schneller zu werden
Es stimmt: Lockere Läufe beschleunigen nicht nur dich am Renntag, sondern auch deine Regeneration. Head Coach des On Athletics Club (OAC), Dathan Ritzenhein, erklärt, warum du langsamer laufen solltest.
Text von Laura Markwardt. Fotos von Colin Wong und Daniel Shea.
Was bedeutet «langsam laufen, um schneller zu werden»?
Obwohl das «Zone 2»-Training mit niedriger Intensität als neuester, technisch klingender Fitness-Hack im Trend liegt, sind professionelle Ausdauersportler*innen und Spitzentrainer*innen schon lange von lockeren, gleichmässigen Läufen überzeugt.
Langsam laufen, um schneller zu werden, bedeutet nichts anderes, als die maximale Laufleistung bei lockerem Tempo zu absolvieren. Die Realität sieht so aus, dass selbst die besten Langstreckenläufer*innen nicht jedes Mal, wenn sie die Schuhe schnüren, eine übermenschliche Trittfrequenz an den Tag legen.
Die Leichtathletin und Langstreckenläuferin Verity Ockenden beendete ihre Saison 2023 mit einem Karrierehöhepunkt: einer Top-Ten-Platzierung über 5 km bei den Weltmeisterschaften in Riga.
In den Monaten davor trainierte sie mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, wobei die meisten Läufe mindestens zwei Minuten pro Kilometer langsamer waren als ihr Renntempo. Die Erkenntnis daraus: Schnelle Läufer*innen trainieren nicht bei jedem Lauf mit der gleichen (hohen) Intensität. Und die Wissenschaft zeigt, dass du das auch nicht nötig hast.
Expert*innen weisen darauf hin, dass selbst die besten Läufer*innen dazu neigen, mit einer Intensität zu trainieren, die ihre Regeneration verlangsamt. Der Cheftrainer des On Athletics Club (OAC) und dreimaliger US-Olympionike Dathan Ritzenhein erklärt: «Viele Athlet*innen übertrainieren, sie überfordern sich an den lockeren Tagen. Es ist wichtig, an den harten Tagen hart zu trainieren. Aber es ist auch wichtig, bei lockeren Läufen auf deinen Körper zu hören, um für den nächsten Qualitätstag gerüstet zu sein.»
Warum sollte ich langsam laufen?
«Du solltest langsam laufen, weil du dich nach zu vielen schnellen Läufen hintereinander in ein Loch gräbst», sagt Trainer Ritzenhein.
«Das Ziel ist es, eine Balance zu finden zwischen den Tagen, an denen du dich im Hochleistungsbereich verbesserst – die Trainer*innen nennen das 'Leistungssteigerung' – und den Tagen, an denen du dich von dieser Anstrengung erholst, um für den nächsten Lauf bereit zu sein. Du musst ein gutes Gleichgewicht zwischen diesen Sessions finden.»
An dieser Stelle ist es hilfreich, den Unterschied zwischen aerobem und anaerobem Training zu verstehen: Das American College of Sports Medicine (ASCM) definiert aerobe Aktivität als «jede Aktivität, die grosse Muskelgruppen beansprucht, kontinuierlich aufrechterhalten werden kann und von rhythmischem Charakter ist». Das Schlüsselwort in dieser Definition ist «kontinuierlich».
Aerobes Laufen ist lockeres Laufen mit weniger als 80 % der maximalen Herzfrequenz. Das Laufen in diesem Bereich maximiert die Fähigkeit der Sportler*in, Fett als Energieressource zu verbrennen. Es ist die Art von Laufen, bei der du das Gefühl hast, ewig laufen zu können.
Im aeroben Bereich nutzt der Körper Sauerstoff, um die Muskeln anzutreiben und sie mit Glykogen (in den Muskeln gespeicherte Kohlenhydrate) und Fett (seine bevorzugte Energiequelle) zu versorgen. Mit diesem Treibstoffcocktail können deine Muskeln weiter arbeiten. Und das tut gut.
Anaerobes Training ist, wenn du die Intensität ein paar Gänge hochschraubst. Die ASCM definiert es als «intensive körperliche Aktivität von sehr kurzer Dauer, die durch Energiequellen in den kontrahierenden Muskeln gespeist wird und unabhängig von der Verwendung von eingeatmetem Sauerstoff als Energiequelle ist».
Der anaerobe Bereich fühlt sich an, als würdest du aus der Komfortzone in die Schmerzzone laufen, und zwar in einem Tempo, von dem du weisst, dass du es nicht lange durchhalten kannst.
«Es ist wichtig, an den harten Tagen hart zu trainieren. Aber es ist auch wichtig, bei lockeren Läufen auf deinen Körper zu hören, um für den nächsten Qualitätstag gerüstet zu sein.»
Beim anaeroben Training, bei dem die Muskeln ohne Sauerstoff arbeiten, ist Glykogen die Hauptenergiequelle für die Muskeln, und die Glykogenreserven des Körpers werden viel schneller verbraucht als die Fettspeicher. Wenn du in den anaeroben Bereich kommst, geht dir irgendwann das Glykogen aus. Das wird manchmal auch als «eine Wand treffen» oder «Bonking» bezeichnet: ein Zustand, den alle Läufer*innen am Renntag fürchten.
Trittst du in den anaeroben Zustand ein, bildet sich Milchsäure in deinen Muskeln. Dieser biologische Mechanismus verhindert, dass du deine Muskeln über ihre Grenzen hinaus belastest, indem er dich verlangsamt. Das ist ein kluger Trick der Evolution, der dich am Renntag aber daran hindern kann, die Ziellinie zu überqueren, wenn du ein Tempo vorlegst, das du nicht durchhalten kannst.
Langstreckenläufer*innen (und Läufer*innen, die für einen Marathon trainieren) müssen am Renntag so lange wie möglich im aeroben Bereich bleiben. Das bedeutet, im aeroben Bereich zu trainieren, um durch effiziente Fettverbrennung ohne Glykogenverbrauch schneller zu werden.
Macht mich langsames Laufen wirklich schneller?
An der alten Läufer*innenweisheit «Geh die leichten Tage locker und die schweren Tage hart an» ist etwas dran.
Obwohl es sicherlich von Vorteil ist, dich ohne Rücksicht auf das Tempo zu bewegen, nutzt du die jeweiligen Trainingsvorteile von aerobem und anaerobem Training effizienter, wenn du dich bei jeder Trainingseinheit auf eines davon konzentrierst.
Langsames Laufen kann deine persönliche Bestleistung steigern, wenn du die meisten Kilometer in einem langsameren Tempo läufst und dieses aerobe Training mit etwas Laufen ausserhalb deiner Komfortzone abwechselst.
Trainer Ritzenhein empfiehlt einen Trainingsplan für optimale Ergebnisse: «Wer immer nur langsam und nie schnell läuft, wird sein Potenzial wahrscheinlich nicht ausschöpfen. Allerdings solltest du darauf achten, auch ein paar lockere Tage einzubauen. Am besten ist es, einen wöchentlichen Trainingsplan mit Qualitätstagen zu erstellen. OAC-Athlet*innen haben zwei oder drei Qualitätstage, die schneller sind, und die anderen Tage sind locker, je nachdem, wie sie sich fühlen.»
Wie langsam sollte ich laufen?
Das richtige Tempo für dein Ausdauertraining bedeutet, dass du in der Lage bist, eine angemessene Strecke in einem angenehmen Tempo zu laufen.
Trainer Ritzenhein erklärt, dass es dabei einige Nuancen gibt: «Es hängt definitiv von der Person ab, aber manche Leute benutzen GPS-Uhren, Herzfrequenzmesser oder Apps, um zu sehen, wie langsam ihr Tempo sein sollte. Ich würde sagen, dass Dialog-Laufen für die lockeren Tage wichtig ist. Wenn du also mit jemandem läufst, solltest du darauf achten, dass du dich unterhalten kannst.»
In Daten ausgedrückt bedeutet das, dass du im aeroben Bereich bleibst, wenn deine Herzfrequenz während des Laufens nicht mehr als 80 Prozent deiner maximalen Herzfrequenz beträgt. Die meisten Smartwatches führen diese Berechnungen für dich durch, indem sie klare Bereiche definieren, aber du kannst das auch mit einem Herzfrequenzmessgerät herausfinden.
Um deine maximale Herzfrequenz zu ermitteln, subtrahierst du einfach dein Alter von 220. Bei einer 30-jährigen Person liegt die maximale Herzfrequenz beispielsweise bei etwa 190 Schlägen pro Minute.
Sobald du deine maximale Leistungsfähigkeit kennst, kannst du rückwärts arbeiten, um deine Herzfrequenzzone zu bestimmen. Um die aerobe Performance zu verbessern, wird empfohlen, in den ersten drei Bereichen zu bleiben, wie unten definiert:
Wie du langsamer läufst
Die Anwendung der Herzfrequenzzonen auf die Tempoempfehlungen bedeutet, dass du den grössten Teil deines Laufs nicht über Zone 3 hinausgehen wirst.
Um sicherzustellen, dass du nicht in die anaerobe Herzfrequenzzone 4 abrutschst, kann es sinnvoll sein, das Tempo deiner aeroben Läufe zu variieren. An den Tagen nach einer anstrengenden aeroben Einheit kannst du beispielsweise in den Zonen 1 und 2 bleiben, um deine Regeneration voranzutreiben.
Du solltest nicht regelmässig in die niedrige Zone 4 rutschen – spare dir diese anaeroben Belastungen für die bewusst harten Trainingseinheiten auf.
Hüte dich auch davor, deine lockeren Tage in der Gruppe oder mit schnelleren Trainingspartner*innen zu laufen: «Viele Menschen haben Probleme, weil sie mit anderen zu schnell laufen. Es kann eine gute Idee sein, deinen Laufpartner*innen zu sagen, dass du einen Regenerationslauf absolvierst», sagt Coach Ritzenhein. «Du solltest dein Erholungstempo anpeilen und dich selbst daran halten.»
Ist es besser, schnell oder langsam zu laufen?
Wenn du es gewohnt bist, nur nach Gefühl zu laufen, wirst du Schwierigkeiten haben, in den unteren Herzfrequenzbereichen zu bleiben und unbewusst schneller werden.
Kelsey Quinn, Assistenztrainerin des OAC, erklärt: «Du kannst Jahre damit verbringen, Spitzensportler*innen aus der ganzen Welt zu trainieren und zu beobachten, aber du kannst nicht einfach das gleiche Trainingsmodell auf jede*n Athlet*in anwenden, um die besten Ergebnisse zu erzielen. Jeder Fall ist individuell.»
Auf einem breiteren, nicht professionellen Niveau bedeutet das, dass deine Zone 3 anders sein kann als die von anderen. Und wie der Zweitplatzierte der Ironman-Weltmeisterschaft 2018, Bart Aernouts, bei einem Besuch im On HQ sagte: «Ein langsamer Lauf kann nur zu schnell sein, nicht zu langsam.»
Die wirklich lockeren Läufe von Aernout liegen zwischen 4:17/km und 5:00/km. Das ist schnell für Alltagsläufer*innen, aber es bringt ihn im Vergleich zu seinem Renntempo nicht über Zone 3 hinaus.
Aernout vertritt die Philosophie, dass mehr Arbeit (hohes Volumen) bei geringerer Intensität Vorteile bringt. Regelmässiges Training mit niedriger Intensität bedeutet auch, dass du weniger anfällig für Verletzungen bist. Während andere sich von einem Marathon erholen, kann Bart weiter trainieren und seine Distanz steigern.
«Du solltest dein Erholungstempo anpeilen und dich selbst daran halten.»
Spitzentrainer*innen werden dir sagen, dass die Regeneration zum Training gehört. Langsameres Laufen ist sowohl ein wichtiger Teil eines optimierten Ausdauertrainings als auch einer optimierten Regeneration. Trainer Ritzenhein sagt: «Baue Tage ein, auf die es ankommt. Ich empfehle sowohl Profis als auch Anfänger*innen, einige Tage in der Woche für ein qualitativ hochwertiges Lauftraining einzuplanen und die restlichen Tage der Erholung und dem Aufbau der aeroben Kapazität zu widmen.»
Solltest du langsamer laufen, um schneller zu werden?
Deine Fitness profitiert auch von den fokussierteren Tempoübungen, die Coach Ritzenhein erwähnt. Gelegentliches anaerobes Training baut die Kraft und die Explosivität auf, die du vor allem in der Endphase eines Rennens brauchst – aber denk daran, die lockeren Läufe leicht zu nehmen.
In dieser Einführung zum Intervalltraining erfährst du mehr zu anaeroben Intervallen. Wenn du deine Laufgeschwindigkeit verbessern oder insgesamt schneller laufen möchtest, lies diese Tipps zum schnelleren Laufen.
Die Expert*innen sind sich einig, dass es der Schlüssel zu deiner neuen persönlichen Bestleistung sein kann, wenn du mehr lockere Läufen in dein Repertoire aufnimmst, um deine Ausdauer zu verbessern und hohe Geschwindigkeiten abrufen zu können.
Langsam und stetig macht – meistens – das Rennen.