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Change your mind: Wie Bewegung das Gehirn rekonfiguriert

Wir wissen, dass Bewegung unser Denken verändert und uns kreativer macht. Aber wie genau? Wirf einen detaillierten Blick auf die Wissenschaft (und die Magie), die den Zusammenhang zwischen Bewegung und verbesserter Kognition erklärt.

Verzerrtes Grau-Weiss-Bild eines Gesichts mit Kapuze
Verzerrtes Grau-Weiss-Bild eines Gesichts mit Kapuze

Diese Geschichte erscheint in Ausgabe 03 des OFF Magazins – On‘s Print-Magazin zu den Themen Bewegung, Design und Nachhaltigkeit.

Von Zoe Cormier

Der ehemalige Fallschirmjäger Keith Abraham, der neun Jahre lang als Mitglied des Fallschirmjägerregiments für die britische Militärelite kämpfte und sowohl im Irak als auch in Afghanistan diente, machte 2002 bei der Vorbereitung für einen Einsatz eine überraschende Entdeckung. Sein Regiment hatte Ausdauerläufe zu absolvieren, bei denen 54 kg über eine Strecke von 10 Kilometer bergauf getragen werden mussten. Eine Leistung, die die meisten von uns wohl als unglaublich quälend und schmerzhaft empfinden würden. Und für die meisten wäre es schlicht unmöglich, so eine Leistung überhaupt zu schaffen.

Abraham aber, der heute die Wohltätigkeitsorganisation «Heroic Hearts» leitet und sich für Veteranen einsetzt, empfand das militärische Training – und insbesondere das Ausdauertraining – als etwas Magisches für seinen Geist. Es versetzte ihn in eine Art Flow-Zustand und erlaubte ihm unglaublich klare Gedanken zu haben. Etwas, das er nie für möglich gehalten hätte.

«Normalerweise erreicht man dieses Niveau extremer körperlicher Belastung nicht – ausser man wird dazu gezwungen. Und wenn ich extrem sage, dann meine ich extrem und zwar in jeder Hinsicht. Aber die extreme Belastung hat uns gelehrt, unseren Verstand einfach abzuschalten», sagt er. Um sich über einen so langen Zeitraum mit so viel Gewicht fortbewegen zu können musst du den Verstand ausschalten und dich ganz auf deinen Atem konzentrieren und ihn kontrollieren. Und wenn du diesen Flow-Zustand erreichst, kannst du tatsächlich ewig weitermachen.»

Abraham hat seit seiner Kindheit viel Sport getrieben, von Rugby über Fussball bis hin zu Skifahren. Doch interessanterweise erreichte sein Geist nur bei dem Training, das ihn auf einen Krieg vorbereiten sollte, eine erstaunliche Ruhe.

«Als Kind war Sport für mich ein Ventil, um Energie abzubauen. Es ging nie darum, einen Flow-Zustand zu erreichen. Damals hatte ich nicht die Geistesgegenwart, um zu verstehen, was ich heute weiss. Nämlich, dass Ausdauersport mir erlaubt, mit meinem Geist in Verbindung zu treten», sagt er. «Ich begriff mehr und mehr, dass hartes Training nicht nur einen physischen Aspekt hat, sondern auch Freude bereitet.»

Ich kann das nachvollziehen. Auch ich habe als Kind eine Vielzahl von Sportarten betrieben, wobei Baseball meine grosse Leidenschaft war. Es hat mir immer Spass gemacht, meine Würfe zu treffen oder einen Homerun zu schlagen. Später aber habe ich den Sport aufgegeben, um mich aufs Studium zu konzentrieren, da er zu viel Zeit in Anspruch nahm.

Zwanzig Jahre später hat mich mein persönliches Schicksal dazu gezwungen, den Sport, insbesondere Ausdauertraining, wiederzuentdecken. Ein fast tödlicher Hausbrand hatte meine Wohnung zerstört und mich für zwei Monate obdachlos gemacht. Der Stress hat mich ausgelaugt und ich versank in einem depressiven Zustand. Etwas, das ich nicht kannte. Obwohl ich das Feuer überlebte, waren in meinem Gehirn wohl alle Schalter auf depressiv eingestellt. Und ich konnte sie nicht mehr zurückstellen. Ich war ständig müde. Ich konnte nicht mehr schreiben, weshalb meine Karriere und meine Finanzen litten. Es war eine schwierige Zeit.

Abstraktes Bild von Bäumen und ZweigenAbstraktes Bild von Bäumen und Zweigen
Rötliche Sträucher Rötliche Sträucher

Also tat ich, was jeder vernünftige Mensch tun würde: Ich ging zum ersten Mal in meinem Leben in ein Fitnessstudio, weil man mir gesagt hatte, das sei das Beste, um den Körper und den Geist neu zu beleben. Zum ersten Mal schwang ich mich auf einen Hometrainer, um all das Übel, den Stress und die Schlaflosigkeit, die mich über zwei Monate begleiteten, auszuschwitzen.

Erst dann merkte ich wieder, was ich nie hätte vergessen dürfen: Bewegung ist Magie für den Kopf. Nach jedem Training fühlte ich mich dank «Endorphin-High» nicht nur entspannter und besser gelaunt, sondern auch wacher und klüger. Ich konnte mir mühelos Telefonnummern und Wegbeschreibungen merken. Langweiliger Papierkram und lästige Administration wurden zum Kinderspiel. Das Überfliegen eines Stapels von Zeitungen dauerte nur einen Moment. Mit meiner Karriere ging es aufwärts. Seitdem habe ich mir angewöhnt, eine gute halbe Stunde Cardio-Training einzubauen, wenn ich über etwas, das ich aktuell schreibe, nachdenken muss. Wenn ich nicht am Schreibtisch sitze und nur auf meinen Herzschlag und meinen Atem höre, fällt es mir viel leichter, neue Ideen oder den passenden Satz, für den Anfang einer Story, zu finden.

Die Sache ist aber, dass ich die Magie der Bewegung nie hätte vergessen dürfen. Ich war eine Sportlerin, bevor ich Autorin wurde. Seit dem Brand halte ich mich daran und versäume es nicht mehr, ins Fitnessstudio zu gehen – auch wenn mir nicht danach ist. In solchen Momenten sage ich mir immer, dass ich das mehr für meinen Kopf als für meinen Körper tue.

«Wir alle hatten schon keine Lust auf Sport, aber fühlten uns beim Verlassen des Fitnessstudios so, als würde das Blut der Götter durch unsere Adern fliessen», sagt Dr. Jaime Tartar, Leiterin des neurowissenschaftlichen Programms der Abteilung für Psychologie und Neurowissenschaften an der Nova Southeastern University in Florida.

Dr. Tartar ist eine der Gründerinnen der Society for Neurosports, einem interdisziplinären Projekt von Neuro- und Sportwissenschaftler:innen. «Wir wollen herausfinden, weshalb wir uns nach ein bisschen Sport klüger, stärker und einfach besser fühlen», erklärt Tartar.

Wir alle haben schon vom «Runner‘s High» und dem «Endorphinrausch» nach einem Training gehört, aber laut Tatar steckt noch viel mehr dahinter.

«Bewegung ist der beste Weg, um Depressionen vorzubeugen, die kognitiven Fähigkeiten zu verbessern, Stress abzubauen, besser mit Ängsten umzugehen und sich vor Demenz zu schützen», fasst sie zusammen. «Das gilt für alle, egal ob NFL-Spieler oder Durchschnittsmensch. Wenn wir die Vorteile von Bewegung in einer Flasche verkaufen könnten, würde sie jeder – wirklich jeder – kaufen»

Sie hat recht.

Sobald das Herz zu pumpen beginnt, wird das Gehirn mit Blut durchflutet. Selbst leichtes Gehen kann den Blutfluss um 15 Prozent erhöhen, indem es die Arterien und Venen in den Füssen zusammendrückt ¹. Dieser Blutschub beinhaltet nährende Hormone, Neurotransmitter und andere Biochemikalien. Es sind Botenstoffe, die Informationen zwischen den Gehirnzellen transferieren und es erst ermöglichen, dass diese kommunizieren und optimal funktionieren können.

Von den meisten hast du schon gehört: Endorphine, die uns den berühmten Rausch bescheren. Endocannabinoide, quasi unser natürliches Schmerzmittel. Dopamin, der Stoff, der gewöhnlich durch Drogen, Alkohol, Glücksspiele oder andere Verführungen ausgelöst wird. Adrenalin, das «Fight or Flight»-Hormon, das uns auf einen Kampf vorbereitet. Und dann sind da noch die entzündungshemmenden Zytokine. Sie dämpfen systemische Entzündung, wie sie zunehmend als Schlüsselkomponente bei Depressionen angenommen werden ².

Blick vom Gipfel des Hügels auf den Fluss im Tal
Blick vom Gipfel des Hügels auf den Fluss im Tal

Der Blutfluss im Kopf wird überproportional in den frontalen Kortex geleitet. Diese Region, die auch als «Befehls- und Kontrollzentrum» des Gehirns bezeichnet wird, wird im Allgemeinen mit komplexem Denken und Kognition in Verbindung gebracht. Diverse Studien³¯¹² zeigen, dass Kognition und Intelligenz positiv beeinflusst werden, wenn Blut mit seinen nährenden Neurochemikalien in den frontalen Kortex gepumpt wird. Gedächtnis, räumliches Denken, Problemlösungskompetenz, Verarbeitungsgeschwindigkeit, Fokus, Out-of-the-Box-Denken, Konzentration, Kreativität – alles profitiert.

Dank der gesteigerten Fähigkeit, komplexe Informationen zu verarbeiten und die Stimmung positiv zu beeinflussen, kann Sport ausserdem Ängste lindern und die Resilienz stärken. «Bewegung impft das Gehirn quasi gegen negative Informationen», fasst Tartar zusammen.

Anders ausgedrückt: «Bewegung bringt alle Nervenzellen in Schwung und macht sie bereit, sich alles zu holen, was es zu holen gibt», sagt Neuropsychiater Dr. John Ratey, ausserordentlicher Professor für Klinische Psychiatrie an der Harvard Medical School, Autor von 11 Büchern und mehr als 60 «peer-reviewten» Studien. Dr. Ratey gilt als Ikone auf dem Gebiet. Als er in den 1990er Jahren begann, die kognitiven Vorteile von Bewegung zu erforschen, war er ein Pionier. Damals schenkten nur wenige Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler dem Thema Beachtung.

Dass sich Sport langfristig positiv auswirkt, ist inzwischen allen klar. Aber Dr. Ratey sagt, dass es wichtiger sei, dass wir Bewegung als etwas betrachten, das man im Moment tut:

«Es macht Lust aufs Leben.»

Dopamin, Endorphine, Adrenalin, Zytokine: Das ist ein ausgewogener biochemischer Cocktail.

Es ist an dieser Stelle wichtig zu wissen, dass das Gehirn zwar nur zwei Prozent unseres Körpergewichts ausmacht, aber 20 Prozent unseres Energiebudgets verbraucht. Es nimmt sich also weit mehr, als ihm eigentlich zusteht. Doch das hat seinen Grund. Wie der legendäre ukrainisch-amerikanische Wissenschaftler Theodosius Dobzhansky schon 1973 sagte: «Nichts in der Biologie macht Sinn, ausser man betrachtet es im Lichte der Evolution.»

«Wir sehen in den fossilen Aufzeichnungen, dass sich der frontale Kortex vergrössert hat, als wir zu Jägern und Sammlern wurden. Es sind neue Nervenzellen hinzugekommen, da wir unsere Bewegungen verfolgen mussten», erklärt Dr. Ratey. «Wir wurden geschickter, wir wurden strategischer, und brauchten mehr Kapazität, um uns konzentrieren zu können.»

Das macht Sinn. Wandernd auf der Suche nach Nahrung mussten wir viel mehr Informationen speichern als unsere Vorfahren, die Primaten. Etwa, welches essbare und welches giftige Pflanzen sind, wo wir sie finden und wann sie reif zum Verzehr sind.

Wenn man ausserdem berücksichtigt, dass wir auf der Jagd die Bewegungen unserer Beute antizipieren mussten, um sie danach listig zu erlegen, wird noch deutlicher, dass es die Bewegung war, die die Entwicklung unseres Gehirns vorantrieb (und nicht umgekehrt).

Ursprünglich wurde angenommen, dass das grosse menschliche Gehirn die Voraussetzung war, dass wir einen stattlichen Körperbau entwickelten. Aber die neuere Forschung hat diese Annahme über den Haufen geworfen und legt nahe, dass wir grössere Gehirne brauchten, weil wir uns mehr bewegten. Mit anderen Worten: Wir hätten die Fähigkeit zu Rechnen nicht entwickelt, wenn wir nicht ursprünglich «Gym Monkeys» gewesen wären.

«Es gibt eine 'bidirektionale' Beziehung zwischen Bewegung und der Gesundheit des Gehirns. Wer ein gesundes Gehirn haben will, muss sich bewegen», sagt Dr. Tartar. «Viele Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler argumentieren, dass der einzige Grund, warum Tiere überhaupt ein Gehirn haben, ihr Bewegungsdrang ist.

Detailaufnahme eines AstesDetailaufnahme eines Astes
Zwei Pflanzen mit flauschigen FasernZwei Pflanzen mit flauschigen Fasern

Zum Beispiel Tunikaten, auch bekannt als Manteltiere, erklärt sie. Wenn sie sich im Meer schwimmend fortbewegen, haben sie ein primitives Gehirn. Aber wenn sie eine benthische Form annehmen und sich dauerhaft an einem Fels festmachen, wird ihr Gehirn vom Körper absorbiert und verdaut. Denn das energetisch teure Organ wird nicht mehr benötigt.

Uns trennen zwar mehrere hundert Millionen Jahre Evolution von den Seescheiden, aber wir teilen 80 Prozent unserer Gene mit ihnen. Das durch Inaktivität verursachte Schrumpfen des Gehirns ist daher, wenig überraschend, auch beim Menschen zu beobachten. Eine 2018 in der angesehenen Fachzeitschrift PLOS One veröffentlichte Studie¹³ mit dem Titel «Sedentary behavior associated with reduced medial temporal lobe thickness in middle-aged and older adults» fand heraus, dass Inaktivität mit der Grösse jener Gehirnregion korreliert, in der Hippocampus und Amygdala angesiedelt sind. Und hier werden Erinnerungen kreiert und gespeichert.

Was das für Implikationen hat, sollte uns allen zu denken geben.

«Ich bin immer noch schockiert, dass die meisten Menschen nur so wenig über den Zusammenhang von körperlicher und geistiger Fitness wissen», sagt Dr. Ratey. Er führt das auf das Aufkommen der modernen Schreibtischarbeit und das Internet zurück. «Es ist schon unglaublich, dass wir das Bedürfnis unseres Körpers nach Bewegung einfach ignorieren. Wir sind sogar an einem Punkt, an dem uns beigebracht wird, dieses Bedürfnisse zu ignorieren.»

Die New Yorker Sportphysiologin Sue Hitzmann formuliert es noch deutlicher:

«Wie wichtig Bewegung für das Gehirn ist, lässt sich am einfachsten so erklären: Wenn man den ganzen Tag auf einem Stuhl sitzt und sich nicht bewegt, schrumpft das Gehirn buchstäblich», sagt sie.

Die gute Nachricht ist, dass man nur eine mässige Menge an Bewegung pro Tag braucht, um die schädlichen Auswirkungen der Inaktivität zu mildern, sagt Dr. Allison Brager, Militärwissenschaftlerin und Autorin von Meathead: Unraveling the Athletic Brain.

«Es braucht nur 45 Minuten bis eine Stunde Bewegung pro Tag – das reicht, damit sich Bewegung positiv auswirkt», sagt sie.

«Wie bei vielen Dingen in der Biologie gibt es eine 'Dosis-Wirkungs-Kurve'», sagt Brager. «Wenn man sich zu wenig bewegt, reagiert der Körper negativ. Zu viel Bewegung ist auch nicht gut. Man braucht eine massvolle und gesunde Balance, um die Gesundheit des Gehirns zu fördern.»

Die Vorteile, die sich aus der Bewegung ergeben, sind nicht nur während und nach dem Training spürbar, sondern summieren sich im Laufe der Zeit. Übung macht zwar nicht den Meister, aber Wiederholung zahlt sich in jeden Fall aus. Die Messungen aller kognitiven Fähigkeiten des Menschen, von der Kapazität des Langzeitgedächtnisses über die Verarbeitungsgeschwindigkeit bis hin zur Problemlösungskompetenz, haben gezeigt: Tägliche Bewegung hält das Gehirn jung, frisch, plastisch und gesund.

Danken dürfen wir es den Neurotransmittern, den Hormonen und anderen Biochemikalien – die Postboten unseres Gehirns. Das menschliche Wachstumshormon (HGH), das in der Pubertät eine wichtige Rolle für unsere Entwicklung spielt, aber in den Dreissigern nachlässt, wird etwa durch tägliche Bewegung angeregt. So bleiben wir jung. Das Gleiche gilt für Osteocalcin, das Hormon, das der Stärkung unserer Knochen dient. Und das ist wichtig, denn wir werden alle älter und anfälliger für Unfälle und Stürze. Auch die Produktion von Irisin, das sogenannte «Sporthormon», wird durch tägliche Bewegung angeregt. Da es erst vor kurzem entdeckt wurde, sind die Effekte noch nicht vollständig erforscht.

Der am gründlichsten untersuchte Neurotransmitter hat hingegen immer wieder bewiesen, dass er messbare Veränderungen in der Anatomie und der Funktion des Gehirns hervorruft: «Brain-Derived Neurotrophic Factor» (BDNF) fördert die «Neurogenese» (die Bildung neuer Gehirnzellen) und die «Synaptogenese» (die Bildung neuer Verbindungen zwischen Gehirnzellen). Betrachte BDNF als Dünger für das Gehirn, oder wie es Dr. Ratey ausdrückt: «Dünger für das Gehirn.»

Unscharfes Gesichtsbild einer Figur mit Kapuze
Unscharfes Gesichtsbild einer Figur mit Kapuze

Die überholte Meinung, dass wir nach der Pubertät keine neuen Gehirnzellen mehr bilden, könnte nicht falscher sein. «Wenn es eine Sache gibt, die ich über das Gehirn weiss, dann ist es, dass es plastisch ist. Und das ist fantastisch», sagt Hitzmann. «Wenn Bewegung zur Gewohnheit wird, bilden sich neue Gehirnzellen.»

Wenn man sich hingegen nicht regelmässig bewegt, werden nicht nur keine neuen Gehirnzellen gebildet, sondern es erhöht sich auch das Risiko für Alzheimer, Parkinson und andere Formen der Neurodegeneration. Um in der Biologie die Funktion eines Organs oder eines Gens zu verstehen, muss man eben dieses aus dem System entfernen (wie bei einer genetisch veränderten Maus). Dasselbe gilt für Sport. Das Gehirn hat sich so entwickelt, dass es tägliche körperliche Bewegung braucht. Ohne Bewegung leidet es.

Man schätzt, dass heute weltweit mehr als 57 Millionen Menschen an Alzheimer leiden¹⁴, und dass diese Zahl bis zum Jahr 2050 auf über 160 Millionen ansteigen wird. Eine bahnbrechende Studie aus dem Jahr 2011 schätzt, dass 13 Prozent aller Alzheimer-Fälle auf körperliche Inaktivität zurückzuführen sind und dass bis zu einer Million Fälle der Krankheit verhindert werden könnten, wenn wir unser kollektives Sitzen um nur 25 Prozent reduzieren würden¹⁵.

Anders gesagt: Sitzen tut uns nicht gut.

«Es hat sich gezeigt, dass körperliche Aktivität vor neurodegenerativen Erkrankungen schützt. Es hilft uns, unsere kognitive Gesundheit zu erhalten», sagt Dr. Art Kramer, Direktor des Zentrums für Kognition und Gehirngesundheit und Professor für Psychologie an der Northeastern University in Boston.

Er weiss, wovon er spricht: Dr. Kramer veröffentlichte im Jahr 1999 eine der ersten Studien über die kognitiven Vorteile von Bewegung in der weltweit führenden Fachzeitschrift Nature¹⁶.

Er untersuchte den Effekt von aerobem Training (Gehen) und anaerobem Training (Dehnen und Krafttraining) auf Tätigkeiten wie Planen, Organisieren und das Arbeitsgedächtnis bei 124 zuvor körperlich inaktiven Erwachsenen im Alter von 60 bis 75 Jahren und stellte einen positiven Effekt bei der aeroben Gruppe fest. In der anaeroben Gruppe konnte er diesen nicht feststellen¹⁷.

«Selbst bei älteren Menschen hilft aerobes Training, um das Gedächtnis, das Denkvermögen, die Problemlösungskompetenz und die Aufmerksamkeit zu verbessern», erklärt er.

Und sanftes aerobes Training ist nicht nur nützlich, um unseren kognitiven Zustand im Moment aufrecht zu erhalten, sondern kann ihn bis ins hohe Alter sogar verbessern. Seine Forschungen zeigen, dass auch nur ein bisschen mehr körperliche Aktivität die Gedächtnisleistung um bis zu 20 Prozent steigern kann, unabhängig vom Alter.*

Laufen, Walken, Schwimmen, Yoga, Zumba, Boxen, High Intensity Training (HIIT) oder CrossFit – es gibt so viele Möglichkeiten, das Gehirn in Schwung zu bringen. Was soll man nur wählen?

Die Antwort ist einfach: Mache, was dir Spass macht und was dir leichtfällt. Denn nur wenn dir eine Aktivität auch Spass macht, wirst du sie gerne täglich ausüben. «Tue einfach, was du willst», fasst Dr. Kramer zusammen.

Wenn du gerne läufst, ist das wunderbar. Denn sowohl Studien mit Tieren als auch Menschen zeigen, dass Running unserem Gehirn guttut. Ratten, die Übungen absolvierten, die tägliches Laufen imitierten, erlebten eine «Neurogenese» in ihrem Hippocampus ¹⁸ und dieser ist entscheidend für das Bilden von Erinnerungen.

Schatten von zwei Menschen im Gras
Schatten von zwei Menschen im Gras

Vergleichbare Experimente beim Menschen sind nahezu unmöglich, da wir ein menschliches Gehirn nicht sezieren können, um die Zellstruktur direkt nach einem Lauf zu analysieren. Dank neuer Bildgebungstechnologien können wir aber Veränderungen im Gehirn während und nach dem Laufen beobachten (früher war dies wegen der ständigen Kopfbewegung beim Laufen schwierig messbar, weshalb die meisten Studien zu den kognitiven Vorteilen von Ausdauersport stationär und mit Radfahrer:innen durchgeführt wurden). Eine weitere bahnbrechende Studie, die 2021 in Nature veröffentlicht wurde, zeigte anhand von Nahinfrarot-Spektroskopie-Scans etwa, dass nur schon 10 Minuten Laufen die Durchblutung des präfrontalen Kortex («das Befehls- und Kontrollzentrum» des Gehirns) erhöhen und sich bei kognitiven Standardtests die «Exekutivfunktionen» verbessern¹⁹.

Falls Laufen nicht so dein Ding ist oder du dir mehr Abwechslung beim Training wünschst, kannst du vielleicht ein Teamsport in Betracht ziehen. Menschen sind soziale Wesen und wenn wir unsere Bewegungen beim Teamsport – sei es Basketball, Ballett oder Tennis – auf andere abstimmen müssen, sind wir stärker gefordert als bei Aktivitäten, die wir für uns allein ausüben.

«Um unser Gehirn besser zu machen, müssen wir es fordern und ein bisschen stressen», erklärt Dr. Ratey. «Komplexe Aktivitäten wie Boxen und Mixed Martial Arts sind für das Gehirn deshalb besonders förderlich, da wir unsere Aufmerksamkeit gleichzeitig auf mehrere Dinge richten müssen.»

Wie Dr. Ratey sagt, ist dies der Grund, weshalb Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler insbesondere Tanzen – vor allem energiegeladenes Tanzen – als ultimatives Training für den frontalen Kortex empfehlen.

«Wenn das Gehirn körperliche Bewegungen im Takt der Musik koordinieren und gleichzeitig auf alle Personen rundherum achten muss, ist das eine ganz schön schwierige Aufgabe», sagt Dr. Ratey. Die Flut an Endorphinen, Oxytocin und Dopamin, die ausserdem durch die Musik ausgelöst wird, sorgt für einen weiteren neurologischen Kick. «Sowohl beim Kampfsport als auch beim Tanzen muss man auf die richtige Form und so viele Dinge gleichzeitig achten. Das ist unglaublich kompliziert und kann für das Gehirn nur gut sein.»

Für Joe Verghese, Professor für Neurologie und Medizin am Albert Einstein College of Medicine, ist dies keine Überraschung. Er beschäftigt sich bereits seit fast 20 Jahren mit den kognitiven Auswirkungen des Tanzens auf das Gehirn und publizierte schon 2003 eine bahnbrechende Studie ²⁰ im New England Journal of Medicine, die zeigte, dass sich Tanzen positiv auf das Gehirn auswirkt. «Wir untersuchten elf unterschiedliche Aktivitäten, wobei sich herausstellte, dass nur Tanzen das Demenzrisiko reduzieren konnte.», erklärt er.

«Beim Tanzen passieren so viele Dinge gleichzeitig. Physische Aspekte, soziale Aspekte, kreative Aspekte – all diese Dinge kommen beim Tanzen zusammen.»

Eine echte Challenge und deshalb besonders gut für das Gehirn. «Denn um das Gehirn zu fordern, sollten wir es auf möglichst verschiedenen Ebenen beanspruchen», fasst Dr. Ratey zusammen.

Angesichts der Tatsache, dass die Vorteile von Bewegung in der Biochemie und Biomechanik verankert sind, stellt sich die Frage, ob wir das System auch hacken könnten? Könnte ein kurzes, aber intensives HIIT den gleichen Effekt haben?

Dr. Brager sagt, dass dies gar nicht nötig sei und verweist auf das Konzept der «Non-Exercise Activity Thermogenesis» (NEAT). Will heissen: Sanfte täglichen Aktivitäten wie Gartenarbeit, Treppensteigen, den Kindern hinterherlaufen oder zu Fuss zur Arbeit zu gehen sind genauso effektiv wie ein einstündiges Hanteltraining. «All diese täglichen Aktivitäten summieren sich. Man muss kein Abo im Fitnessstudio haben.»

Aber was wäre, wenn es eine Pille geben würde – nur einmal theoretisch gefragt?

«Mir ist egal, was du denkst. Aber keine Pille wird jemals alle Vorteile von echtem Sport nachahmen können», sagt Dr. Brager. Sie verweist darauf, dass nur schon Gehen allein einen subtilen, aber äusserst effektiven Effekt auf unsere Zellen hat. Etwa die Verbesserung der "Hausmeisterdienste", die die Gliazellen leisten, indem sie Zellabfälle entsorgen, während wir schlafen. Oder die Art und Weise, wie Tanzkurse die weisse Substanz im Gehirn – die Autobahnen des Geistes – anreichern²¹.

«Bewegung fördert auch die Freisetzung neurotropher Faktoren aus spezialisierten Organellen, den sogenannten Exosomen. Und das wirkt sich von der Skelettmuskulatur auf das Plasma und auf das Gehirn aus», erklärt Dr. Brager. «Keine Pille kann dasselbe erreichen.»

Hitzmann bringt es auf den Punkt:

«Wenn man sich auf die antidepressive Wirkung der ‘Glücksstoffe‘, die bei körperlicher Betätigung freigesetzt werden, konzentriert, geht das am Thema vorbei», sagt sie. «Es geht darum, dass Bewegung das Gehirn für alle Freuden des Lebens empfänglicher macht.»

Unscharfes Schwarz-Weiss-Bild einer laufenden Figur
Unscharfes Schwarz-Weiss-Bild einer laufenden Figur

Und da wären wir wieder beim Zauberwort, welches Keith Abraham am Anfang dieses Artikels benutzte: Freude.

Es ist ein überschätzter Mythos, dass in depressivem Zustand die grössten Kunstwerke entstehen. Nur wenn wir unseren Körper neu starten, können wir auch unser Gehirn neu starten. Und Depressionen können sehr wohl Ausdruck davon sein, dass der Körper dem Gehirn signalisiert, was es braucht. Mit anderen Worten: Das positive Gefühl von Bewegung, das wir dank dem Ausschütten von Endorphinen erleben, ist nicht nur das Sahnehäubchen auf dem Kuchen, sondern integraler Bestandteil, um die kognitiven Geheimnisse von Bewegung überhaupt erst zu entschlüsseln.

Mit anderen Worten: Die angenehmen Vorteile der Bewegung, die wir durch den Endorphinrausch verspüren, sind nicht nur das Sahnehäubchen auf dem Kuchen – sie sind integral, um die kognitiven Geheimnisse von Bewegung überhaupt erst zu entschlüsseln. Denn Bewegung könnte nicht nur entscheidend sein, um sich im Moment besser zu fühlen, sondern auch einer der Schlüssel zur Evolution des Bewusstseins selbst.

Referenzen

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